Verzicht als Vision
Von Stephan Weichert
Früher galt das Zitat als schick „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“. Ich selbst habe es häufiger verwendet, es stammt von dem langjährigen Zeit-Herausgeber und Altkanzler Helmut Schmidt, den ich sehr verehrt habe, auch weil er in den unmöglichsten Situationen unbeirrt nach seinen Menthol-Zigaretten griff (Giovanni di Lorenzo kann ein Lied davon singen).
Tempi passati: Das Sicherheitsbedürfnis der Deutschen ist nach wie vor ausgeprägt, anders als vor 50 Jahren wandelt sich aber glücklicherweise die Einstellung zu Visionen – heute würde man wohl von Purpose sprechen. Ich meine: Wer angesichts von Klimawandel, sozialer Polarisierung und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit keine Vision hat, sollte am besten ganz schnell zum Arzt gehen. Angesichts der akuten gesellschaftlichen Bedrohungen wäre es fahrlässig, die Verwerfungen in unserem Land auszusitzen und keine Vision im Gepäck zu haben.
Auch für Journalist:innen gilt daher: Der öffentliche Diskurs ist derart überhitzt, dass es sich lohnt, ihre Vision zu finden. Ein Beispiel: Verzicht. Es wird derzeit viel über verbindliche Emissionsziele berichtet, aber der eigentliche Beitrag zur Klimaneutralität – der Konsumverzicht in unserem eigenen Lebensumfeld – spielt in den Medien noch viel zu selten eine Rolle: Geht es eine Nummer kleiner? Müssen wir in einem großen Haus leben? Müssen wir ein protziges Auto fahren? Sollten wir jetzt auch frisches Gemüse beim Online-Lieferdienst bestellen? Also: Wie können wir weniger konsumieren, ohne unsere Lebensqualität einzubüßen?
Die Frage nach dem Warum
Häufig stellen Journalisten schlicht falsche Fragen. Die Antworten auf die Frage „Was machst Du?“ lautet meist in etwa: Ich recherchiere eine Geschichte über den Messenger-Dienst Telegram. Oder: Ich schreibe gerade an einem Text über einen mittelständischen Unternehmer für nachhaltige Zahnbürsten. Das Problem: Damit locken sie niemanden hinter dem Ofen hervor.
Journalismus sollte (sich) häufiger nach dem Warum fragen. Die Antworten könnten in den obigen Beispielen lauten: Warum werden die Betreiber des Kurznachrichtendiensts Telegram nicht zur Rechenschaft gezogen, obwohl sie eine Menge Hassrede und Verschwörungspropaganda auf ihrer Plattform zulassen? Oder: Warum können ausgerechnet Zahnbürsten zu einem nachhaltigeren Konsum anregen? Das klingt weitaus inspirierter, finden Sie nicht?
Und darum geht es doch gerade: Auch wir Journalist:innen stiften mit unserer Arbeit Sinn, indem wir die Verbindungen zwischen Handeln und Wirkung im Leben der Menschen aufzeigen. Unsere Vision gibt Orientierung, weil sie Kontexte benennt, Kompliziertes verständlich erklärt, auch Komplexität zulässt – und gegebenenfalls die eigenen Motive offenlegt, warum Journalist:innen das tun, was sie tun. Es erfordert Mut und Selbsterkenntnis, das zu formulieren.
Wichtige Krisenkompetenz des Journalismus
Das Warum ist der beste Weg, Nutzern einen Zugang zu ermöglichen, ihre Leidenschaft für Graustufen zu wecken und ihnen zu erklären was es bedeutet, bei Missständen genauer hinzuschauen. Beim Warum geht es nicht darum, Leute zu bevormunden. Das ist nicht die Aufgabe von Journalismus und schadet seiner Glaubwürdigkeit. Visionär zu berichten bedeutet, klare Standpunkte zu vertreten, genauer hinzuschauen: Welche Sinnhaftigkeit können wir in der Krise vermitteln? Wie können wir ein Desaster für den demokratischen Prozess abwenden?
Wäre der Journalismus eine natürliche, von gängigen Klischees befreite Person, dann diese: Sie schafft Vertrauen, kennt die Menschen vor Ort sehr gut, kümmert sich mit Verve um deren Bedürfnisse, schafft Kommunikationsanlässe und moderiert kontroverse Debatten. Ergänzen lässt sich in der Krise: Sie hilft Menschen, die Konsequenzen ihres Tuns zu begreifen und unterstützt sie, Krisen im eigenen Lebensumfeld zu überstehen – und aus ihnen zu lernen.
Das könnte eine gute Vision sein, um demokratische Strukturen zu fördern. Denn die Krisenkompetenz des Journalismus zeigt sich an seiner Fähigkeit, die Ursachen für die zunehmende soziale Polarisierung auch im Lokalen aufzuspüren. Und sie benennt Lösungen, von denen wir noch gar nicht wussten, dass wir sie einmal brauchen würden.
Stephan Weichert ist Medienwissenschaftler und Innovationsberater. Gemeinsam mit Alexander von Streit leitet er das VOCER Institut für Digitale Resilienz, das Bildungsprogramme und systemische Beratung anbietet. (mehr zu Stephan Weichert)