8 Erkenntnisse, die resiliente Menschen in der Krise gelernt haben und jetzt beherzigen
Pandemie, Krieg, Klimakatastrophe, Inflation. Was bleibt vom Sinneswandel während der gefühlten Dauerkrise? Viele streben zur Normalität zurück. Sinnvoller wäre es, wenn wir uns die Dinge bewahren würden, die wir in den vergangenen Monaten gelernt haben – über uns selbst.
Von Stephan Weichert
Das schlechte am Ende einer jeden Krise ist, dass wir meist in unser vorheriges Verhaltensmuster zurückfallen. Als sei nichts gewesen, vergessen wir plötzlich, wie dreckig es uns, unseren Familien und Freunden ging. Wir erinnern uns nicht mehr an das erlebte Solidaritätsgefühl oder an die vorher so intensiv empfundene Empathie für diejenigen, denen es noch schlechter geht als uns. Wir verschwenden keinen Gedanken mehr an die wichtigen Dinge, die wir – wenn die Krise erst einmal vorbei ist – uns felsenfest geschworen haben, ändern zu wollen. Stattdessen gehen wir wieder inflationär mit unserer Zeit um und halten unseren Lebensstil in Saus und Braus für selbstverständlich.
Kein Vorwurf an dieser Stelle, der Mensch ist nun mal Gewohnheitstier. Die sogenannte Normalität gibt uns Struktur, Routine verleiht uns Selbstvertrauen, der Nine-to-five-Job gibt uns das wohlige Gefühl von Sicherheit. Die Vergänglichkeit von Krisen ist im Grunde eine Waffe gegen das Ungewohnte, Unverstandene, Unverarbeitete. Und dass wir überhaupt vergessen können und uns nicht auf unsere Instinkte verlassen müssen, unterscheidet uns vom Tier. Doch kann diese Vergesslichkeit trügerisch sein. Denn sie bedeutet in letzter Konsequenz, dass wir aus dem Schaden womöglich nicht klüger wurden und aus der Krise nichts gelernt hätten – weder fürs Leben noch für die Gesellschaft. Und das wäre bitter.
Corona als Lehrmeister
Denn schließlich ist der gesellschaftliche Wandel endlich in Schwung gekommen, wir haben in kürzester Zeit erreicht, was wir in dem Jahrzehnt zuvor nicht geschafft haben. Wir sind mitunter über uns hinausgewachsen. Und wir haben als Solidargemeinschaft gelernt, worauf es beim Krisenmanagement wirklich ankommt. Nicht zuletzt haben wir uns mit den drängenden Herausforderungen der Digitalisierung über Daseinsvorsorge bis Nachhaltigkeit zum ersten Mal ernsthaft auseinandergesetzt.
Deshalb sollte das, was uns die Coronazeit gelehrt hat, nachhaltig sein und nicht nur ein vorübergehender Trend.
Bei genauer Betrachtung haben wir der Pandemie also einiges zu verdanken – das klingt zynisch, soll aber keinesfalls über all die Toten und Kranken hinwegtäuschen in der Welt. Dennoch muss es erlaubt sein zu fragen, ob die Krise(n) nicht auch etwas Positives bewirken konnten. Und das hat sie, denn wir haben viel über unseren individuellen Sinn und das Wertesystem unserer Gemeinschaft erfahren.
Die schwindenden Ressourcen, der Energiekollaps und die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich zwingen uns mehr denn je dazu diesen sozialen Wandel weiter voranzutreiben. Voraussetzung für diese Transformation ist die Innovationsbereitschaft jedes Einzelnen – und der Wille zur aktiven Mitgestaltung.
Dass das aber nur im Zusammenspiel mit anderen funktionieren kann, ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis aus den Dauerkrisen. Für die so dringend benötigte gesellschaftliche Schubumkehr sollten wir (mindestens) acht zentrale Erkenntnisse aus der Krise beherzigen:
1 Weniger Konsum
Sich nicht mehr an Materielles zu klammern, den Konsum (von so ziemlich allem) einzuschränken, dürfte einigen nach der schweren Zeit nicht schwerfallen. Der Verzicht ist vielerorts eingeübt, die Einschränkungen haben gezeigt, dass weniger manchmal mehr ist. Aber gewarnt sei vor dem JoJo-Effekt: Gerade nach der erzwungenen Zeit des Verzichts haben sich viele Menschen belohnen wollen – mit Fernreisen, Luxusgütern oder Wegwerfprodukten. Bei allem Verständnis dafür, dass auch die Wirtschaft wieder angekurbelt werden muss, ist die Einschränkung des eigenen Konsums die effizienteste Methode gegen die Klimakatastrophe – und zudem die einfachste und sparsamste.
2 Mutig bleiben, Riskantes wagen
Den Mutigen gehört die Welt – dieser Satz stimmt noch immer und umso mehr in der Krise: Viele Menschen haben während der Hochzeit der Pandemie Mut bewiesen – und beweisen noch immer, dass unser Wertesystem ganz ohne Risikobereitschaft nicht intakt bleiben kann. Hasenfüße und Bedenkenträger, zu denen sicher mancher Politiker zu zählen ist, sind in Krisen eher wenig gefragt.
Es braucht Leute, die zupacken, überschaubare Risiken eingehen und das Gemeinwohl dabei im Blick haben. Gerade nach der Krise gilt es, den mutigen Weg weiter zu beschreiten, damit sich die Dinge ändern. Wir müssen alle keine Elon Musks werden (keinesfalls sogar!), aber ein bisschen Mahatma Gandhi oder Bob Marley, die aufgestanden und für ihre Werte eingetreten sind, sollte in jedem von uns stecken.
3 Konformismus als Killer, Anderssein für alle
Das Geschwister vom Mutigsein ist das Anderssein, das Wirken abseits von Norm und Durchschnitt. Corona, Krieg und Klima zeigen, dass Konformität tödlich sein und einer innovativen perspektivenreichen Zukunft entgegenwirken kann. Ein Land aus identitätslosen Konformisten fördert keine neuen Ideen zutage, der unerschöpfliche Quell sozialer Innovation ist die Verschiedenartigkeit der Menschen – in Sprache, Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und Temperament. Spätestens Corona hat bewiesen, wie sehr unsere Gesellschaft auf diese Vielfalt angewiesen ist, damit wir überlebensfähig bleiben können.
4 Auszeiten vom Digitalen
In den langen Homeoffice- und Lockdown-Monaten haben wir erlebt, was es bedeutet, von der Digitalisierung vollends abhängig zu sein – im Guten wie im Schlechten. Den meisten von uns hat es hoffentlich vor Augen geführt, dass ein Zuviel an digitalen Medien durchaus krank machen kann: psychisches Unwohlsein, Depression, Suchtgefahr – you name it (an dieser Stelle sie auf den Abschlussbericht unserer Grundlagenstudie „Wie resilient bin ich im Netz?“ am VOCER Institut für Digitale Resilienz hingewiesen). Lehrreich ist die Erkenntnis, dass es digitale Auszeiten geben muss, und zwar regelmäßig und gezielt, damit uns die Technologie nicht in den digitalen Burn-out treibt.
5 Dialog in der echten Welt
Durch die Krisenzeit haben sich viele Menschen voneinander entfremdet, entwöhnt und entlebt. Der Dialog – abseits der sozialen Netzwerke, Messenger-Dienste und E-Mails – in der realen Umwelt ist essenziell für die Vitalität und den Fortschritt unseres Gemeinwesens. Sie ist der Kern von dem, was wir Demokratie-Resilienz nennen. Kein Metaverse und keine generative KI wird diesen Austausch ersetzen können. Deshalb müssen wir das, was wir in der Krise mitunter so schmerzlich vermisst haben, mehr wertschätzen, kultivieren: Den Dialog mit echten Menschen im echten Leben. Die Lehre aus der Krise ist, dass der soziale Austausch wieder an Wert gewinnen muss.
6 Qualität vor Quantität – in Bezug auf Menschen
Wo früher die Anzahl der Follower bei Twitter oder die der „Freunde“ bei Facebook anerkennendes Nicken hervorrief, rückt in krisenschweren Zeiten statt der Quantität zum Glück wieder die Qualität sozialer Beziehungen in den Vordergrund: In der Not haben viele Leute erleben müssen, wie wenig sie sich auf ihre digitalen Netzwerke verlassen können, und haben sich wieder um echte Freunde bemüht, die sich kümmern, loyal sind oder sich Zeit für Probleme nehmen – ganz ohne Filter und Fake Profil. Auch konnten wir erleben, was „Qualitätszeit“ im Kreis von Familie und Freunden wirklich bedeutet.
7 Natur wertschätzen
Entlegene Rückzugsorte im Grünen – viele Menschen wünschen sich seit dem Krisen-Dauerfeuer nichts mehr als das. Sie sehen sich nach Ruhe, nach frischer Luft, nach Bewegung und Auslauf. Die bewusste Wahrnehmung der Natur wird im Angesicht des Klimawandels zur immer selteneren Kraftquelle, das spüren wir vermutlich unterbewusst schon länger. Deshalb lautet die Devise: Wir sollten das, was wir so sehr lieben und auch für unsere eigene Resilienz benötigen, konsequent vor der Zerstörung schützen. Viele Menschen haben das noch nicht erkannt – sie gilt es zu überzeugen!
8 Veränderung als Konstante
Motor unserer Zivilisation ist die ständige Weiterentwicklung, der sogenannte Fortschritt. Als Mitglieder eines Gemeinwesens können wir nur aneinander wachsen, wenn wir endlich begreifen, dass die einzige Konstante die Veränderung ist: Es wird niemals ein „Fertig“ geben, ein Ende ist immer auch ein Anfang von etwas Neuem. Nichts ist sicher, nicht einmal die Rente, nur unser eigener Tod steht fest.
Der Krieg in der Ukraine und dessen Folgen für die Menschen zeigen aufs Schrecklichste, dass wir uns wohl oder übel damit abzufinden haben, dass sich weltliche Ziele wie angehäufter Reichtum, eine steile Karriere oder eine pralle Altersvorsorge in null Komma nichts auflösen können, wenn es das Schicksal – oder wie sonst man das nennen mag – nicht mehr ganz so gut mit uns meint. So ist das, wonach wir zeitlebens zu streben glauben, also lediglich eine Frage der Perspektive.
Stephan Weichert ist Medienwissenschaftler und Innovationsberater. Gemeinsam mit Alexander von Streit leitet er das VOCER Institut für Digitale Resilienz, das Bildungsprogramme und systemische Beratung anbietet. (mehr zu Stephan Weichert)