„Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?“
Welches Gegengift in Krisen wirklich hilft
Viele Menschen können derzeit aus Angst vor der Zukunft nicht schlafen. Dabei sind wir gar nicht so hilflos, wie wir denken, und können sogar trainieren, besser mit der Furcht in Krisenzeiten umzugehen.
Von Stephan Weichert
02:36 Uhr. Manchmal liege ich nachts wach und kann nicht einschlafen. Ich grübele darüber nach, wie wohl die Welt aussehen wird, in der meine Kinder einmal leben werden, wenn sie erwachsen sind. Wenn es schlecht läuft mit dem Grübeln, kommt mir manchmal ein düsterer Science-Fiction-Cocktail aus nuklearer Katastrophe, Social-Media-Diktatur und Zombie-Apokalypse nach einem Pandemie-Unfall in den Sinn. Der Zustand der Menscheit verheißt ja schon jetzt wenig Gutes. Wie wird das erst in zehn Jahren sein?
Schockstarre war gestern, heute ist die Furcht zum permanenten Begleiter geworden. Wie ein hartnäckiger Keuchhusten, der nicht lebensgefährlich ist, einem aber die Luft zum Atmen nimmt und den man nicht so leicht loswird. Angst kann uns entmutigen, dass es jemals wieder besser wird. Sie wirft die Menschen auf sich selbst zurück und schränkt sie in ihrem Handeln ein. Sie wird noch verstärkt, wenn wir zu sehr zweifeln. Und sie lähmt uns, wenn wir schmerzlich erkennen, dass wir weder kämpfen noch davonlaufen können. Oder wenn uns das Gefühl beschleicht, wir stehen mit unseren Nöten ganz allein da. „Was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?“ Das ist stets eine der Einstiegsfragen der Akademien und Workshops an unserem Institut für Digitale Resilienz – und war auch zentrales Thema im „Mutmach-Podcast“ von Suse und Hajo Schumacher, bei dem ich vor einem Jahr – mitten in einem der Corona-Lockdowns – digital zu Gast sein durfte.
Die Antworten der Teilnehmenden unserer Workshops sind mitunter blumig, häufig überraschend, aber immer individuell. Wir wollen die Leute mit dieser Gretchenfrage aus der Reserve locken, sie provozieren und nachdenklich machen. Sie sollen sich emotional in eine – berufliche oder private – Ausgangslage hineinversetzen, in der es keine Ängste oder Zwänge gibt. Das tut gut, weil sich gerade in den Polykrisen kaum Gelegenheit zum Durchatmen und Kreativsein findet. Und schon die bloße Vorstellung, vollkommen angstfreie Entscheidungen treffen zu können, löst bei vielen positive Assoziationen aus, setzt neues Selbstvertrauen frei.
Gegengifte gegen Krisenangst
Angst ist kein guter Berater. Das ist eine Erkenntnis der Sozialpsychologie, weil Menschen keine guten Entscheidungen treffen, wenn sie ängstlich sind. Ihr Urteilsvermögen ist durch einen pessimistischen Blick auf das Weltgeschehen eingetrübt. Es macht sie ohnmächtig, sie fühlen sich hilflos. Oder sie haben das Gefühl, sich selbst nichts zuzutrauen. Angesichts der sich weiter verschlechternden Krisenlage ziehen sie sich zurück, schränken ihren Wirkungsradius ein, lassen niemanden mehr an sich heran.
Die Corona-Maßnahmen haben die soziale Distanzierung notwendig gemacht, aber auch das Gefühl emotionaler Desorientierung verstärkt. Eine der vielen langfristigen Folgen für die Bevölkerung, die soziologisch noch nicht abschließend untersucht wurden: aggressives Abwehrverhalten und Vergiftung des gesellschaftlichen Miteinanders (hier lohnt auch ein Blick in das Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zur Frage, wie Corona unsere Gesellschaft verändert).
Wie gehen wir mit den eigenen Ängsten und Sorgen um, damit wir nicht von ihnen erschlagen oder aufgefressen werden? Angst kann man sich abtrainieren oder zumindest so umleiten, dass sie einen nicht beherrscht. Dass man seine Ängste steuern und sie sich sogar produktiv zunutze machen sollte, nennen Psychologen „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ – im Grunde meint der Begriff den Glauben an sich selbst und in die eigenen Fähigkeiten.
Es geht dabei um die Kontrollerwartungen, eine bestimmte Situation oder Entwicklung so zu beeinflussen, dass sich ihre Ergebnisse zum Positiven wenden und sich Negativeffekte möglichst vermeiden lassen – oder es sich zumindest für uns so anfühlt, als würden wir das Ergebnis konkret konrollieren können.
In Krisen ist diese Selbstwirksamkeitsüberzeugung regelmäßig ausgeschaltet oder erheblich angekratzt: Vieles liegt außerhalb unserer Komfortzone, wir können den Ausgang des Geschehens weder kennen noch direkt beeinflussen. Gerade in der Krise auf das Positive hinzuwirken, fällt daher doppelt und dreifach schwer. Und so bitter die Erkenntnis klingt: Nicht in jeder Krise steckt auch wirklich eine Chance.
Daher ist die aktive Antizipation, die vorwegnehmende gedankliche Einordnung oder Erwartungshaltung, für die seelische Elastizität (Resilienz) umso wichtiger. Um Resilienz in einer Krise zu steigern, kann antizipatives Verhalten hilfreich sein, indem wir uns in solchen Momenten fragen: Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Wie kann ich mich und meine Familie beschützen? Wie kann ich im meinem sozialen Umfeld längere Durststrecken bewältigen? Nach welchen Werten möchte ich leben, die mir in dieser Krise Kraft geben?
Ein weiteres Gegengift gegen die Krisenangst ist unerschütterliches Grundvertrauen und die Gabe, gelassener zu werden. Erstere ist einem meist in die Wiege gelegt worden. Letztere lässt sich problemlos erlernen. Gelassenheit kann in Krisen helfen, seine Ängste in den Griff zu bekommen und selbst in scheinbar ausweglosen Momenten nach Auswegen zu suchen.
Über Ängste zu reden, ist keine Schande
Das ist allemal besser als Probleme zu ignorieren, zu verdrängen oder, wie wir es häufig in der Politik erleben, einfach „auszusitzen“. Die Perspektivierung eines Krisenereignisses, die Relativierung eines Einzelfalls, die Kontextualisierung einer Notlage kann Schlimmeres zwar mitunter nicht verhindern. Aber sie verhilft dazu, uns selbst aus der Angststarre zu lösen und keine furchtbesetzten Entscheidungen zu treffen.
Halten wir fest: Ein gesundes Angst- und Augenmaß hilft sicherlich, Risiken zu minimieren. Auch lässt uns eine gewisse Erwartungsspannung achtsamer werden. Vor allem aber hindern tiefsitzende Urängste uns daran, nach vorne zu blicken. Sie bremsen uns aus in unserem kreativen Schaffen. Manchmal triggern sie unser Selbstwertgefühl so sehr, dass wir depressiv werden können. Und sie verstellen den Blick auf das „Big Picture“, das eine resiliente Demokratie ausmacht: Gemeinwohl und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Kurzum: Zuviel Angst tut keiner Gesellschaft gut – weder im Großen noch im Kleinen.
Wer seine Sorgen anderen anvertrauen kann, sich von einem intakten Netzwerk umgeben und getragen fühlt, und wer Unterstützung erhält, kann seine Krisenkompetenz ausbauen. Sie oder er hat oft eine bessere Widerstandskraft als jemand, die oder der sich allein durch eine Krise kämpft oder sich zurückzieht. Mit anderen in den Austausch über die eigenen Ängste zu gehen oder Freunde um Hilfe zu bitten, ist übrigens keine Schande. Nach meiner Erfahrung bieten sich dadurch neue Möglichkeiten und eröffnen sich plötzlich ungeahnte Chancen, an die frau und man bisher noch nicht dachte.
„Warum weinen?“ fragt der marokkanische Gastarbeiter Ali (El Hedi ben Salem) in Rainer Werner Fassbinders Sozialdrama – „Weil ich so glücklich bin, und weil ich solche Angst habe“, antwortet seine 20 Jahre ältere Geliebte, die verwitwete Putzfrau Emmi Kurowski (Brigitte Mira). „Nix Angst. Angst nix gut. Angst essen Seele auf“, tröstet Ali. Emmi: „Angst isst Seele auf – das klingt schön.“
Stephan Weichert ist Medienwissenschaftler und Innovationsberater. Gemeinsam mit Alexander von Streit leitet er das VOCER Institut für Digitale Resilienz, das Bildungsprogramme und systemische Beratung anbietet. (mehr zu Stephan Weichert)