Das Leiden anderer erkennen
Ein Plädoyer für mehr Mitgefühl in der Krise
Empathie und Demut helfen, dankbar auf das zu blicken, was wir haben. Trotz Angst vor der eigenen Gas- und Stromrechnung sollten wir uns bewusst machen: Vielen Menschen geht es noch viel schlechter.
Von Stephan Weichert
In meinen Resilienz-Coachings und Workshops werde ich häufig gefragt, was uns im Allgemeinen zu besseren Menschen, Kolleg:innen, Führungskräften etc. macht. Eine meiner Standard-Antworten lautet: Lerne, empathisch zu sein, dich in andere hineinzuversetzen. Nur wenn es dir gelingt, das Leiden anderer zu erkennen, indem du wirklich gute Fragen stellst und aktiv zuhörst, wirst du über dich hinauswachsen und zu wahrer Größe finden.
In beruflichen, aber auch in privaten Gesprächen erlebe ich leider oft das genaue Gegenteil: Gerade jetzt, in dieser krisenschweren Phase, scheint es, als kehre jede:r nur vor seiner eigenen Haustür. Ich meine damit nicht nur die dämlichen Sprüche im Büro à la „Duschst du noch, oder lebst du schon?“ oder die Oberschlaumeier, die mir jetzt ständig erklären wollen, mit welcher Einstellung am Heizungsknopf ich am meisten Energie einsparen kann.
Angst vor der eigenen Gas- und Stromrechnung
Ich rede davon, dass wir vor lauter Angst vor der eigenen Gas- und Stromrechnung inzwischen gar keinen Gedanken mehr an die Vertriebenen und Angehörigen der Gefallenen im Ukrainekrieg verschwenden. Dass wir nur noch wenig dafür übrig zu haben scheinen, dass es den meisten Menschen in der Welt noch seeehr viel schlechter ergeht (und ergehen wird) als uns. Oder dass es bei der Klimakonferenz in Ägypten gerade um die Verteilungskämpfe der nahen Zukunft geht, die als Erstes die Entwicklungs- und Schwellenländer treffen.
Ist es nicht pervers, dass unsere größten Probleme momentan darin bestehen, dass wir ab sofort weniger in Restaurants essen gehen wollen oder unseren Netflix-Account abbestellen und womöglich darüber nachdenken, endlich den Zweitwagen abzuschaffen – während fast der ganze Rest der Menschheit hungert oder friert. Mir schaudert es, wenn ich an die noch nicht lange zurückliegenden Gespräche mit Zeitgenoss:innen denke, deren größte Sorge es ist, wie sie jetzt noch am besten ihr Geld anlegen sollen, das sie wegen der ganzen Corona-Lockdowns nicht für Luxusurlaube oder Louis-Vuitton-Taschen ausgeben konnten.
Angesichts dieser „First World Problems“ ist mir manchmal richtig mulmig zumute. Mein schlechtes Gewissen wird dann so groß, dass ich mich zu zwingen versuche, dankbarer zu sein. Dafür, dass ich gesund bin. Dass ich zwei gesunde Kinder und eine wundervolle Ehefrau habe. Dass meine Eltern noch leben. Dass ich jeden Tag etwas zu essen auf dem Tisch habe und es mir sogar zeitlich erlauben kann, mindestens eine Stunde am Tag einen Spaziergang draußen in der Natur zu machen.
Gerade in diesen unsicheren Zeiten wird es deshalb wichtig, Dankbarkeit zu zeigen und demütiger zu werden. Nur wer sich jeden Tag aufs Neue besinnt, dass sich das Leben auch ganz anders anfühlen könnte, dass uns Krisen und Kriege von heute auf morgen jäh aus diesem Wohlstand reißen können, und dass nichts, aber auch gar nichts auf dieser Welt selbstverständlich ist, kann das „Selbstverständliche“ erst genießen.
Eine Basis für das gesellschaftliche Miteinander
Und zu diesem geschärften Bewusstsein gehört eben auch, sich mit dem Leiden anderer zu befassen – nicht nur derer, die vom Kriegs- und Krisengeschehen gebeutelt sind. Sondern auch mit dem Leid der Menschen, die in unserer angeblichen Wohlstandsgesellschaft schon länger zu den Ausgestoßenen, den Verdrängten und Gedemütigten gehören. Und denen es gerade jetzt noch schlechter geht als zuvor. Ich spreche von Menschen, die kein Obdach haben, von Kranken, die Zuspruch brauchen, und von Alten, die keine Angehörigen mehr haben.
Ich war vor Kurzem beim Norddeutschen Rundfunk in der Gesprächssendung „Redezeit“ zu Gast. Es ging um die Frage, was unsere Krisengesellschaft im Inneren (noch) zusammenhält und was der öffentlich-rechtliche Rundfunk dazu beitragen kann. Die Frage klingt angesichts der Verwerfungen bei RBB und NDR vielleicht wohlfeil. Aber sie ist nichtsdestoweniger zentral.
Mein erster Gedanke war: Dialog. Nur wenn wir einander mehr Wertschätzung und Mitgefühl entgegenbringen, können wir der wirtschaftlichen und emotionalen Spaltung entgegenwirken. Das Ziel muss eine gemeinsame Perspektive sein, eine Basis, um das gesellschaftliche Miteinander zu organisieren – und letztlich zu bewahren.
Tun Sie mir deshalb einen Gefallen, wenn Sie das Weihnachtsfest planen: Überlegen Sie diesmal nicht, welche überteuerten Geschenke Sie wem schenken sollten. Denken Sie stattdessen einmal darüber nach, wem Sie konkret helfen könnten. Wer braucht Ihre Unterstützung? Was können Sie unkompliziert tun, um die Lebensumstände einer anderen Person zu verbessern? Wie können Sie das Leiden anderer lindern, indem sie einfach zuhören oder Zeit herschenken?
Statt eines ausufernden Wunschzettels, machen Sie diesmal eine kurze Liste mit zwei oder drei Menschen, die leiden und denen es dank Ihrer persönlichen Hilfe besser gehen könnte. Notieren Sie das, was diese Mitmenschen konkret brauchen und wann Sie ihn oder sie unterstützen wollen. Und – ganz wichtig – erzählen Sie unbedingt Ihren Freund:innen und Kolleg:innen davon. Bitten Sie sie darum, mitzumachen oder es Ihnen gleichzutun.
Glauben Sie mir, das ist gar nicht schwer.
Stephan Weichert ist Medienwissenschaftler und Innovationsberater. Gemeinsam mit Alexander von Streit leitet er das VOCER Institut für Digitale Resilienz, das Bildungsprogramme und systemische Beratung anbietet. (mehr zu Stephan Weichert)