Journalis-Muss
Journalismus muss sich neu erfinden und auf seine Traditionen zurückbesinnen – besonders in Zeiten von Populismus, Verteilungskämpfen und Klimawandel. Ein Plädoyer für mehr Gemeinwohlorientierung in den Medien.
Von Leif Kramp und Stephan Weichert
Was Journalismus soll, darf oder muss, wird in diesen Zeiten zur demokratierelevanten Größe. Antworten auf diese Fragen bestimmen, ob unsere Gesellschaft zusammenhält, immer poröser wird oder letztlich zerbricht.
Wir beobachten, dass Journalismus gerade bei jungen Menschen an Relevanz verliert. Und dass Journalist:innen bei Stammtischen zuweilen als Plage gelten. Wir erfahren, dass in Redaktionen, in beruflichen Netzwerken und in der Weiterbildung Grenzen neu ausgelotet werden: Jeder will der erste sein in Experimenten mit KI. Jede will die beste Performance bei Facebook und LinkedIn für sich beanspruchen. Großverlage üben sich in „guten Nachrichten“ („News to be Good“, Burda Forward), manche üben sich in aktivistischen Seitenwechseln (Schulterschluss des „Stern“ mit „Fridays for Future“). Oder Journalisten schließen sich in Initiativen für Klimajournalismus und Nachhaltigkeit zusammen, gründen auf Biodiversität spezialisierte Medien. Ihr Impetus: Der Journalismus darf nicht das gesellschaftliche Gespräch moderieren, sondern er muss die Menschen auch aktivieren, ihr Verhalten ändern.
Aber: Ist ein Journalismus, der die Verhaltensänderung zu seiner (einzigen) Mission erklärt, der seine Arbeit dem normativen Anliegen unterordnet (manche sprechen von „Haltung“), dass die Zivilisation nicht vor die Hunde geht, ein besserer Journalismus? Oder schießt der gute Wille übers Ziel hinaus?
In einer Krisengesellschaft erscheint der Zeitgeist zumindest reif für Medien, die aktiv gegen Missstände angehen und mögliche Perspektiven aufzeigen. In sozialen Medien entgleitet der Schlagabtausch über Klimafragen leicht – und oszilliert zwischen populistischen Positionen, populären Ängsten und politischer Orientierungslosigkeit. Und so müht sich die professionelle Publizistik zusehends, im pseudojournalistischen Meinungsnebel sichtbar zu bleiben, ja, überhaupt noch vorzukommen – um ihrer eigenen Kenntlichkeit Willen.
Journalismus darf keiner anderen Mission folgen als dem Gemeinwohl
Aber welchen Journalismus braucht die Gesellschaft, wenn sie sich mit epochalen Krisen und empfindlichen Einschnitten in ihren Lebensalltag konfrontiert sieht? Müssen sich die Leitplanken dieses Journalismus von all jenem, was jahrzehntelang als ethischer Goldstandard galt, unterscheiden? Jein. Wir sollten häufiger über radikale Rückbesinnung als über radikale Neuerfindung sprechen. Und nicht nur über Nachhaltigkeit als journalistisches Thema nachdenken, sondern über die Nachhaltigkeit des journalistischen Arbeitens an sich. Also fragen: Welchen demokratischen Mehrwert hat journalistische Berichterstattung? Wie evidenzbasiert ist sie? Und erfüllt sie tatsächlich den Anspruch, dem Gemeinwohl zu nutzen?
Eine Tiefenbohrung ist überfällig, in der auch professionelle Ideale zur Sprache kommen, mit denen Medienschaffende einst in den Beruf starteten. In den zuweilen interessensgeleiteten Debatten, etwa um die Sinnfälligkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder um die personellen Kalamitäten in den arrivierten Verlagen Springer, Spiegel & Co. liest sich das häufig anders. Denn diese auf Empörung getrimmten Scheingefechte lösen vor allem beim Publikum mindestens eines aus: Irritation.
Jahrzehntelang haben wir als Wissenschaftler geforscht, wie sich Mediennutzung und das journalistische Berufsbild verändern. Wir haben untersucht, welche Folgen digitale Kommunikation für die Gesellschaft hat. Und wir halten fest: Wir brauchen weniger eine Neujustierung des professionellen Selbstverständnisses, sondern mithin eine fundierte gesellschaftliche Debatte darüber, wie Journalismus selbst widerstandsfähig in krisenschweren Zeiten bleibt. Es geht darum, ob und wie diese immer mehr zum Subventionsfall geratene Branche unter dem Eindruck von wachsenden Zukunftsängsten, wirtschaftlicher Volatilität und einem Glaubwürdigkeitsschwund journalistischer Inhalte „gerettet“ werden kann.
Das klingt wie ein Weckruf – und darf auch als solcher verstanden werden: Wir brauchen einen neuen „alten“ Journalismus, der sich an ethischen Grundtugenden und demokratischen Werten orientiert, der die Menschen dadurch überzeugen kann, dass er ganzheitlich und transparent agiert. Dass er seine Motive offenlegt und Kontexte diskutiert. Und dass er sich frei von Abhängigkeiten macht – von Geldgebern, ökonomischen Launen, politischen Einflüssen und den digitalen Infrastrukturen des US-amerikanischen Tech-Kapitalismus. Hass und Hetze, auch Propaganda – Beispiel Ukraine-Krieg – erfordern einen souveränen, selbstbestimmten, wehrhaften – Journalismus, der die Bürgerinnen und Bürger unserer demokratischen Gesellschaft resilienter macht – in schlechten und für schlechte Zeiten. Er darf keiner anderen Mission folgen als dem Gemeinwohl.
Journalismus als relevantes System und als kulturelle Praxis
Ein solcher Journalismus kann Zweifel an seiner Integrität leicht zerstreuen. Einem solchen Journalismus gelingt es eher, wissenschaftliche Evidenz verständlich zu machen, ohne sich zu verleugnen, indem er Wissenschaft zum kategorischen Imperativ erklärt. Es braucht Ehrgeiz, Mühe und Paradoxien anstatt Reizüberflutung. Ansporn für guten Journalismus ist gesellschaftlicher Dialog. Sein Grundbedürfnis ist es, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, unschöne Ecken der Gesellschaft auszuleuchten, Perspektiven aufzuzeigen. Nicht: schönzureden, Menschen bevormunden, sie umerziehen.
Es ist vielerorts leicht zu beobachten: Schlechter Journalismus formuliert vorrangig Reichweitenziele, er definiert sich über Likes, Hits und Retweets. Der schlechte Journalismus wird es sich nicht zur Aufgabe machen, eine breite Öffentlichkeit zu moderieren, in der über unterschiedliche Deutungen, Perspektiven und Wege derselben Sache gestritten wird. Der schlechte Journalismus stimuliert nicht das Selbstgespräch der Gesellschaft, sondern resigniert vor dem Orkus geschlossener Foren, Gruppen und Kanäle auf digitalen Plattformen. Er nimmt billigend in Kauf (oder treibt sogar voran), dass sich soziale Fronten verhärten. Und er betreibt Effekthascherei und Liebedienerei. Aber er scheut offenkundig die Untiefen unangenehmer Recherchen, publiziert zum eigenen Vorteil.
Gerade deswegen könnte die Gemeinwohlorientierung und die Gemeinnützigkeit im Journalismus einen Unterschied machen bei der Frage, wie Journalismus als relevantes System und als kulturelle Praxis erhalten bleibt und wie er in der Gesellschaft nachhaltigen Rückhalt erfahren kann. Es geht nicht allein um Finanzierungsfragen (Wer gibt das Geld? Wer fördert?), sondern um Qualitäten, die aus dem Querschnitt unserer Gesellschaft heraus zu entwickeln sind. Denn es gilt zu definieren, was ihr tatsächlich dient. Das ist alles andere als ein trivialer Prozess, wie an der zähen Public-Value-Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzulesen ist, der sich um seinen gesellschaftlichen Rückhalt stets sorgen muss.
Auf Tugenden zurückbesinnen
Der Gemeinwohlgedanke muss wieder stärker auf den Journalismus reflektieren: Journalismus sollte nicht nur an sich glauben, sondern sich ein Nachhaltigkeitsversprechen selbst geben dürfen, um einen soliden Job zu machen, ja um überleben zu können. Wenn sich Journalismus intellektuell und professionell weiterentwickeln will, muss er sich auf seine Tugenden zurückbesinnen, also: Unabhängigkeit, Transparenz, Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Authentizität und Gemeinwohl.
Nonprofit-Journalismus, der seine Werte und Visionen offen in die Gesellschaft kommuniziert, passt gut in dieses Versprechen. Nonprofit meint mit Stiftungsmitteln und Spenden alimentierter Journalismus. Auch wenn er in Deutschland stark unterentwickelt, seine Förderkulisse unterkomplex ist, stecken viele Chancen in diesem Ausdruck der Selbstlosigkeit, deutlich mehr als die derzeitige unzulängliche Förderbasis und Spendenkultur vortäuschen mag. Nonprofit-Journalismus ist, wie der Name sagt, nicht gewinnorientiert. Trotzdem zeigt er in mehrfachem Sinne „Umsatzstärke“ und kann mit finanziellen, aber auch ideellen Investitionen für den journalistischen Kernauftrag auftrumpfen.
Was also könnte den Journalismus besser machen als eine neue Nachhaltigkeitsbewegung des Nonprofit-Journalismus?
Dr. Leif Kramp forscht am ZeMKI, Universität Bremen, zur Transformation von Journalismus und Mediennutzung und ist Gründungsvorstand von VOCER.
Dr. Stephan Weichert ist Medienwissenschaftler und Mitgründer des VOCER Instituts für Digitale Resilienz.